XY und XX

Ich liebe den neuen Mann. Den fürsorglichen Chef, der die neuesten Coaching-Methoden ausprobiert. Der Fußball und schnelle Autos genauso liebt wie Bio-Slow-Food und alte Fachwerkhäuser. Der selbstverständlich über seine Gefühle redet und die Welt zu einem besseren Ort machen möchte.

Aber ich verstehe ihn nicht. Wirklich nicht. Nämlich immer dann, wenn es um Schweiß, Blut und Tränen (der Anstrengung) geht. Die hat er bis in dieses wunderbare, neue Stadium der Evolution mit sich geschleppt wie einen alten Mammutknochen, an dem sein sensibles Männerherz mit ganzer Liebe hängt.

Mit größter Vorliebe misst er nämlich nicht nur seine Erfolge in Zahlen – egal, worum es geht, gelaufene Kilometer, geschossene Tore, gearbeitete Stunden, produzierte Seiten, verbautes Material. Nein, in Zahlen misst er auch seinen Aufwand, den er in diese Erfolge hineingesteckt hat, überstandene Schwächeanfälle, übersprungene Pausen, Überstunden, nicht genommenen Urlaub, erhaltene E-Mails, getrunkene Tassen Kaffee. Und wertet den Aufwand bereits selbst als Erfolg.

Und das Zählen wird noch besser: Es darf nämlich in diesem Spiel jeder Misserfolg eines anderen als eigener Erfolg gewertet werden. Was beim einen negativ zu Buche schlägt, rechnet sich positiv für den anderen.

Bei dieser Quantitätsliebe komme ich als neue Frau nicht mit. Ich habe ja schon alles andere mitgemacht: Ich verdiene gerne Geld, bin gerne sichtbar, netzwerke, treffe Entscheidungen, habe Ziele und bin authentisch. Aber in die Quantitätsfalle will ich einfach nicht hinein.

Warum? Der neue Mann hat ein Recht auf eine Antwort. Leider wird er die Antwort nicht gerne hören. Sie lautet nämlich: Im Gegensatz zu dir macht mir das Zählen unnötiger Dinge einfach keinen Spaß.

Ich habe Spaß an Qualität, auch wenn sie über längere Zeit reifen muss und nicht sofort in Stunden, Euros oder Herzrhythmusstörungen messbar ist. Ich habe Spaß an Effizienz, und das bedeutet, dass einige Zahlen kleiner werden – gleicher Output bei geringerem Aufwand. DAS macht mich an.

Total unsexy finde ich dagegen die doppelte Buchführung – was du nicht hast, das darf ich mir zu Gute halten. Die zu Grunde liegende Logik ist fehlerhaft: Von Verlusten anderer kann ich mich nicht ernähren. Was für den einen weg ist, ist dem gesamten Kreislauf entzogen. Wirklich gewinnen kann ich nur durch Partizipation an einer Gesamtnutzenoptimierung. (Schreibt übrigens auch ein Mann: http://www.informationsgeld.info/gesellschaftsvertrag.html)

Ich weiß, dass dir, neuer Mann, dann der Schweiß ausbricht, wenn ich so rede. Nein, ich will dir nicht all deine Spielzeuge wegnehmen. Ich will nur mehr von dir haben! Bitte verfall nicht in Panik und schleppe in dieser Panik noch mehr Mammutknochen in deine Höhle. Entspann dich, und lass dich nur mal kurz auf das neue Spiel ein.

Zähl doch einfach mal die Minuten, die du entspannter schläfst. Und wenn du wirklich nicht ohne Konkurrenz und Sofort-und-schwarz-auf-weiß-Gewinnen kannst, dann heb dir das doch für sonntags auf dem Bolzplatz auf.

 

Warum ich gerne radikal und arrogant bin.

Schreiende Ungerechtigkeit wird von den meisten Menschen als solche wahrgenommen. Im Laufe der Zeit habe ich allerdings verschiedene Reaktionen darauf beobachtet.

Ungerechtigkeit findet statt in der Interaktion zweier oder mehr Menschen, also in einem sozialen System. Ist die Interaktion weit überwiegend von Ungerechtigkeit geprägt und ist den Beteiligten dies bewusst, kann man von einem Unrechtssystem sprechen.

Was tue ich, wenn ich feststelle, dass ich mich als Teil eines solchen Unrechtssystems wiederfinde? Für mich kann es nur eine Antwort geben: Ich entziehe mich der Ungerechtigkeit nicht, aber ich verhandele nicht mit dem System oder Teilen hiervon.

Dabei kommt es mir nicht darauf an, ob ich die Möglichkeit hätte, die Ungerechtigkeit teilweise für mich oder andere weg- oder kleiner zu handeln. Meiner Meinung nach fördere ich das Unrechtssystem als solches, wenn ich – auch unter Aushandlung partieller Abmilderung der Ungerechtigkeit – Erwartungen an das System oder Teile hiervon stelle. Und wenn ich verhandele, stelle ich solche Erwartungen.

Diese Auffassung mag radikal und arrogant sein. Aber ich gehe noch weiter: Ich behaupte, damit dem größten Vorbild anzuhängen.

Jesus von Nazareth beweist immer wieder seine Radikalität und Arroganz. Er entzieht sich dem Unrechtssystem nicht: Er zahlt Steuern an die Besatzer. Wer ihn schlägt, dem hält er auch die andere Wange hin. Aber er verhandelt auch nicht: Die Tische der Pharisäer wirft er um. Gegenüber Pontius Pilatus schweigt er. Schweigt solange, bis dieser im Unrechtssystem Gefangene keine Wahl hat, als ihn zum Tode zu verurteilen.

Was ich mir wünsche? In den richtigen Momenten radikal und arrogant zu sein.