Oh ja, 1/2 Talent bitte, aber gut verpackt!

Gestern bin ich auf einen interessanten Artikel aufmerksam geworden: Auf brandeins schreibt Wolf Lotter, die Begabten würden in unserer Gesellschaft und insbesondere im Arbeitsleben nicht so “von der Leine gelassen”, dass sie ihr Talent für die Gesellschaft bzw. für ihr Unternehmen/ihre Organisationseinheit fruchtbar machen könnten. (Nachlesen: http://www.brandeins.de/archiv/2015/talent/die-schwierigen/)
Wolf Lotters und mein Begriff von Begabung bzw. Talent dürften sich decken (siehe dazu hier) und grundsätzlich stimme ich dem Autor zu.
Allerdings glaube ich im Gegensatz zu ihm, dass die Situation noch etwas komplexer ist. Er beschreibt zutreffend, dass die Auslagerung von Talenten in besondere Projekte und die abgekoppelte Begabtenförderung ins Leere laufen. Es reiche nicht, die Begabten innerhalb des bestehenden Systems nur ein wenig von der Leine zu lassen, man müsse ihnen völlig freie Bahn lassen.
Diese Bestandsaufnahme erscheint mir zwar zutreffend. Ich beobachte aber eine bereits recht weit fortgeschrittene Entwicklung: Das Potential und die ungenutzten Ressourcen jedes einzelnen Begabten, aus der Reihe Tanzenden werden nach und nach von den Verantwortlichen erkannt. Dann wird auch sogar “von der Leine gelassen”. Mehr noch: Dann wird die besondere Leistung, die immer mit Veränderung bestehener Strukturen verbunden ist, sogar gefordert. Einmal erreicht, wird sie zum Normalzustand erklärt – immer aber nur in einem engen vorgegebenen Korridor.
Diese geforderte Über-Leistung einschließlich des Bewirkens struktureller Änderungen bei Vorgesetzten, Kollegen, Systemen oder anerkannten Theorien zu erbringen und sich dabei trotzdem konform auf die Vorgaben zu beschränken, stellt auch für Talente eine große physische und psychische Herausforderung dar. Diese Anstrengung wird nicht mit entsprechender Wertschätzung oder Ausgleich belohnt. Sie wird als selbstverständlich deklariert, als Anreiz dafür, den Betroffenen zu weiteren Höchstleistungen zwischen den Polen “alles radikal neu erfinden” und “trotzdem im Ergebnis nirgendwo anecken” anzuspornen.
Nun befindet sich der Betreffende im moralischen Dilemma: Mitwirkung an Unterdrückung, und sei es als Unterdrückter, ist ein Zustand, der ihn naturgemäß bedrückt und beschwert. Und gleichzeitig stellt er sich gewissenhaft die Frage, ob dieses Aussaugen seines Talents im sozial akzeptablen Rahmen nicht volle Existenzberechtigung hat. Wenn Begabung ihrer Natur nach auf Veränderung zielt – und sei diese Veränderung schließlich noch so positiv – dann ist sie mit Zerstörung des Vorhandenen verbunden. Jedes System verträgt nur ein gewisses Maß an Zerstörung und Erneuerung.
Und dieses Maß richtet sich eben nicht nach den Talentiertesten, sondern – der Regel des Pareto-Optimums entsprechend – nach dem, was das herrschende Fünftel mitzumachen bereit ist.
Es erscheint mir deshalb als natürliche Konsequenz, dass die Begabten sich entweder innerhalb des Systems auf eine unter den gegebenen Bedingungen für sie persönlich pareto-optimale Position zurückziehen und dabei die Einforderung der eingeschränkten Höchstleistung akzeptieren oder sich am Rande des Systems in einer sehr individuellen Nische einrichten.